Sarah Philipp
Wir befinden uns bei den ELF Honors, einen Tag vor dem ELF Championship Game der Saison 2022. Kyle Kitchens wird auf die Bühne gebeten, dort wird ihm der Defensive Player of the Year Award übergeben. Im anschließenden Interview mit Jennifer Becks wird er gefragt, wo er denn 2023 auflaufen werde. Kitchens antwortete: „Berlin“. Jubelschreiend sprang Thunder Sportdirektor Björn Werner auf die Bühne und umarmte seinen Edge Rusher. Damit stand die erste offizielle Vertragsverlängerung schon fest, bevor überhaupt der Meister der Vorsaison ermittelt worden ist.
Noch bis zum 1. November sind Gespräche mit Spielern anderer ELF-Teams untersagt, Verlängerungen oder Verpflichtungen von Spielern unterer Ligen sind hingegen bereits erlaubt. Davon machte Berlin Thunder als eines der wenigen Franchises im Oktober schon öffentlichkeitswirksam Gebrauch. Denn Berlin ist es nicht nur gelungen, einen der besten Spieler der European League of Football zu halten. Neben Kyle Kitchens wurden schon vier weitere Spieler offiziell für die kommende Saison vorgestellt.
Die bisherigen Roster-Entscheidungen Berlins
Dabei handelt es sich um Wide Receiver Robin Wilzeck, Cornerback Moritz Thiele sowie um die Linebacker Paul Seifert und Ludvig Myrén. Aufgrund einer strategischen Neuausrichtung sowie den veränderten Importregeln (wohl nur noch sechs statt acht europäische Imports erlaubt) entschieden sich die Hauptstädter zudem dafür, nicht mit Running Back Jocques Crawford zu verlängern.
Sowohl die fünf Verlängerungen als auch die Trennung von Crawford ergeben Sinn. Kitchens spielte bisher drei Saisons in Europa, dreimal wurde er Sack Leader der jeweiligen Liga. Darüber hinaus gilt er auch abseits des Feldes als sympathischer Mensch. Thiele und Seifert sind schon seit 2021 dabei, zeigten sich in der vergangenen Saison stark verbessert und wurden zu echten Leistungsträgern. Sie können für die Fans als Identifikationsfiguren gut herhalten.
Robin Wilzeck hat seinen Traum von der NFL noch nicht aufgegeben. Damit es für eine Einladung zum NFL International Combine reicht, braucht es auch ein Umfeld, in dem er sich wohlfühlt. Dieses hat er offensichtlich in Berlin gefunden. Mit 30 Yards pro Reception war er die Definition eines Deep Threats. Für Berlin ist er als Homegrown ein Geschenk. Zu guter Letzt wurde bereits ein europäischer Importplatz vergeben. So wird auch der Schwede Ludvig Myrén 2023 erneut das Thunder-Trikot tragen. Geht der 21-jährige im nächsten Jahr den nächsten Schritt, dürfte auch er ein Kandidat für das NFL International Pathway Program sein.
Restliche Offseason Berlins in der Vorschau
Auch im Coaching Staff setzt Thunder derweil auf Kontinuität und verlängerte mit Head Coach und Offensive Coordinator Johnny Schmuck sowie mit Defensive Coordinator Christopher Kuhfeldt. Die beiden haben gemeinsam mit Werner zwar schon begonnen, den Roster zusammenzustellen, doch welche Spieler sollte Berlin noch an sich binden? Wo besteht hingegen Handlungsbedarf?
- Regular-Season-Bilanz: 7–5
- Offense Points Made / Total Yards: 7. / 8.
- Defense Points Allowed / Total Yards: 6. / 3.
- A-Imports 2022: QB J. Germinerio, RB J. Crawford, DE K. Kitchens, DB D. Shelton
- Größte Needs: Wide Receiver, Offensive Line
- Weitere wichtige Verlängerungen: Tobias Rodlauer, Nicolai Schumann, Jonas Schenderlein
Das sind die Needs von Berlin Thunder
Die Statistikbücher schreiben von 21 Passing Touchdowns in der Regular Season – eindeutig zu wenig. Es fehlte der Thunder an einem klaren (und gesunden) Number One Target, das es mit amerikanischen Defensive Backs aufnehmen kann. Auch war die Tiefe im Receiver Corps nicht vorhanden. Berlin muss sich daher auf der Position des Wide Receivers nach neuen Optionen umschauen. Das scheint auch das Front Office so zu sehen, schließlich hat es mit der Trennung von Crawford den Weg eingeschlagen, in Zukunft auf einen US-Wideout zu setzen. Davon dürften auch die talentierten Homegrown Receiver profitieren. Damit einher geht eine offene Stelle im Backfield. Es erscheint trotz ansprechenden Leistungen verführt, hier vorrangig auf Albert Wiesigstrauch zu setzen. Stattdessen könnte die Lösung in einem europäischen Athleten wie Karri Parjarinen oder Jason Aguemon liegen.
Während Thunder eine der besten Verteidigungen bei 3rd und 4th Down Conversions war, fehlten Berlin in der Defense die Turnovers. Auch gegen den Lauf muss sich das Team steigern. Gleichwohl erscheinen diese Adjustments auch ohne große Roster-Veränderungen möglich. Das Personal in der Defense lässt sich durchaus sehen.
Mit der Reduktion der europäischen Importspots wird Thunder darüber nachdenken, ihre Strategie bei der Besetzung der Offensive Line zu verändern. Bisher standen gleich vier E-Imports für die Angriffslinie im Kader. Dieses Volumen wird man bei insgesamt sechs Plätzen nicht mehr wiederholen können. Bei acht deutschen ELF-Franchises ist die Konkurrenz um gute lokale Offensive Lineman allerdings hoch, die Suche gestaltet sich schwer. Deshalb ist die Offensive Line als weiterer großer Need zu nennen, auch wenn die Leistung während der Saison immer besser wurde.
Diese Spieler muss Berlin auf jeden Fall halten
Natürlich ist auch David Izinyon ein wertvoller Teil der starken Defense gewesen. Mit dem Briten zu verlängern, würde ein starkes Signal an die Konkurrenz aussenden. Gleichwohl sind mit Myrén und Linebacker/Nickelback Seifert schon zwei wichtige Spieler in der Unit verlängert worden, sodass erstmal andere Positionsgruppen und Spieler prioritär behandelt werden sollten.
Die Offensive Line beruht wie kaum eine andere Unit auf gemeinsamer Spielerfahrung. Wie bereits angesprochen, standen 2022 gleich vier europäische Offensive Lineman im Berliner Roster und nicht alle dürfte man halten können und wollen. Besonders ragte der Österreicher Tobias Rodlauer heraus, weshalb Thunder dem Offensive Tackle einen neuen Vertrag sollte, falls es dieser nicht in das NFL International Player Pathway Program schafft.
Noch immer sind in der European League of Football gute Kicker rar gesät. Auch wenn besonders die PAT-Quote weiterhin stark ausbaufähig ist, ist klar, dass Berlin mit All-Star Jonas Schenderlein einen guten Kicker im Kader hatte. Schenderlein erzielte ligaweit die meisten Field Goals und auch der Treffer aus der größten Distanz (56 Yards) geht auf sein Konto. Der ehemalige DII All-American fungierte 2022 teilweise auch als Punter.
Die Verlängerung mit Nicolai Schumann ist nur eine Frage der Zeit und doch so wichtig. Der Tight End ist in der deutschen Football Community bekannt und beliebt, sodass er auch abseits des Feldes als Aushängeschild des Berliner Franchise herhält. Aber vor allem wegen seiner Qualitäten auf dem Platz ist Schumann schwer zu ersetzen. Sicherlich hätte man 2022 eine größere Rolle im Passspiel erwarten können. So standen letztlich nur 27 Receptions für 348 Yards und zwei Touchdowns zu Buche. Doch trotzdem ist er einer der gefährlichsten Tight Ends der Liga, der gleichzeitig mit seinen Blocking-Skills wertvoll ist. Letztes besonders dann, wenn ein neuer Running Back zum Team stößt.
Nicht genannt wurden die beiden Amerikaner Dominique Shelton und Robby Kendall, die in der Secondary für Thunder spielten. Kendall werden höhere Chancen auf eine Extension ausgerechnet, schließlich zeigte man sich mit seiner Leistung zufrieden. Möglich ist aber auch, dass Thunder es hier mit einem neuen Spieler aus den Vereinigten Staaten probiert.
Weiter mit Joe Germinerio?
Es ist vollkommen legitim, bei den größten Needs auch über den Quarterback nachzudenken. Denn es ist alles andere als eine einfache Entscheidung, ob man mit Joe Germinerio weiter macht oder nicht. Vorstellbar ist es durchaus, dass Berlin in Richtung eines neuen Quarterbacks tendiert. Germinerio konnte sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten zu einem soliden Signal Caller in der ELF entwickeln, der nach einer starken Leistung in Week 7 sogar zum Wochen-MVP gewählt wurde. Gleichwohl ist Germinerio in der Accuracy inkonstant. Seine Athletik ist fraglos in Ordnung, sodass er auch mal für ein First Down scrambeln kann. Allerdings trifft er hier auch häufig zu früh die Entscheidung, selbst zu laufen und nimmt dabei oft ein zu hohes Risiko ein. Im Allgemeinen basierte das Passspiel zu sehr auf big plays. Man muss ihm aber auch zugutehalten, dass er es die gesamte Saison mit einem rein aus Homegrowns bestehenden Receiver Corps zu tun hatte.
Berlin wird sich auf dem Quarterback-Markt sicherlich erst ein wenig umschauen, bevor sie die endgültige Entscheidung treffen. Nicht weit weg von der deutschen Hauptstadt spielte zuletzt Chris Helbig groß auf. Der GFL-Rookie wurde bei den Potsdam Royals zum Passing Yards Leader und All-Star. Ein guter Fit für Thunder? Warum nicht gleich im Doppelpack mit Receiver Jared Wolfe?